Zivilreligion

Mit seinem Aufsatz "Civil Religion in America" eröffnete der amerikanische Soziologe Robert N. Bellah 1967 eine grosse Debatte unter Soziologen, Religionswissenschaftlern, Politologen und Theologen über den Beitrag der Religion zum Zusammenhalt moderner Gesellschaften. Die Debatte kreist um drei Hauptfragen:

Rousseau

"Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein, ohne Erklärungen und Erläuterungen. Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze - das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz." (J. J. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 1762, Buch IV, Kap. VIII, zit. nach Guizzardi, Der Theismus mit öffentlichen Funktionen, S. 85).

"Nun ist es für den Staat ja sehr wohl wichtig, daß jeder Bürger eine Religion hat, die ihn seine Pflichten lieben heißt; aber die Dogmen dieser Religion interessieren den Staat und seine Glieder nur insoweit, als sie sich auf die Moral beziehen und auf die Pflichten, die derjenige, der sich zu ihr bekennt, gegenüber den anderen zu erfüllen gehalten ist. Darüber hinaus mag jeder Anschauungen hegen, wie es ihm gefällt, ohne daß dem Souverän eine Kenntnis davon zustünde. Denn in der anderen Welt besitzt er keinerlei Befugnis, und es ist nicht seine Sache, welche das Los der Untertanen in einem künftigen Leben sei, vorausgesetzt, daß sie in diesem hier gute Bürger sind." (J.J. Rousseau, a.a.O.; zit nach Guizzardi, a.a.O., S. 85f.)

"Die Zivilreligion Rousseaus sieht nun folgendermaßen aus: »ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht eigentlich als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein.«" (J.J. Rousseau, a.a.O.; zit nach Guizzardi a.a.O, S. 87)

Jean-Paul Willaime: Zivilreligion nach französischem Muster

"Die französische Zivilreligion ist zwar eine laizistische, aber dennoch ist es ihr nicht gelungen, jeden religiösen Bezug aus dem von ihr in Anspruch genommenenn Imaginären auszutilgen.
...
Ausgehend vom französischen Beispiel kann man sich in der Tat fragen, ob nicht jede demokratische Gesellschaft darauf angewiesen sei, einen religiösen Bezug in ihren Horizont aufzunehmen, um so, auch wenn sie dabei durchaus laizistisch bleibt, ihre Ordnung in einem jenseits von ihr Liegenden zu fundieren und so zu garantieren, daß sich das Soziale nicht in sich selbst einschließt. Eignet sich der Staat eine Religion an, so wird er totalitär und intolerant: das Frankreich nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes, welche unter Louis XIV die Protestanten aus Frankreich vertrieb, und das Frankreich des revolutionären Terrors, welches seinerseits die der Zivilverfassung der Kleriker sich widersetzenden katholischen Priester vertrieb und die Klöster aufhob, sind zwei Beispiele für die totalitäre Gewalt, der ein Staat unterliegt, sobald er sich als Vertreter einer Religion ausgibt. (Jean-Paul Willaime, Zivilreligion nach französischem Muster, S. 166)


Zivilreligion in der Schweiz: die "Geistige Landesverteidigung"

Unter dem Begriff Geistige Landesverteidigung versteht man den mit geistigen Mitteln geführten Abwehrkampf der Schweiz gegen die Ideologie des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus in der Zeit vor und während dem 2. Weltkrieg. Die Geistige Landesverteidigung betonte gegenüber dem ausgeprägten Nationalismus der Faschisten, deren erklärtes Ziel die Vereinigung aller "Volksgenossen" in Großdeutschland bzw. Italien war, die Eigenständigkeit der Schweiz und den Wert ihrer kulturellen Vielfalt als Europa en miniature.

Die Geistige Landesverteidigung war allerdings weder eine staatlich gelenkte Aktion noch eine private Organisation. Vielmehr geht es um eine fast unüberschaubare Vielzahl von einzelnen Gruppen und Aktionen, die - bei aller Einigkeit gegenüber dem Faschismus - sowohl von ihrer weltanschaulichen Herkunft als auch von ihren Strategien gegenüber dem äusseren Feind her alles andere als eine einheitliche Haltung vertraten. Das macht das Phänomen Geistige Landesverteidigung schillernd und schwer fassbar.

Die Geistige Landesverteidigung hatte unübersehbar auch eine zivilreligiöse Komponente:


Mehr: Die Geistige Landesverteidigung in der Schweiz


Quellen / weiterführende Literatur und Links:
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Letztes Update: 6.8.2004

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