Versuch einer
Eine Religion ist
In dieser Definition [Begriffserklärung] habe ich versucht, die wesentlichen Aspekte von Religion zusammen zu fassen, wie sie von verschiedenen Religionswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts (Emile Durkheim, Clifford Geertz, Fritz Stolz, Rudolf Otto) formuliert worden sind. Es erscheint mir dabei gerade wesentlich, sowohl substanzielle (d.h. das 'Wesen' der Religion beschreibende) wie auch funktionale (d.h. an den 'Auswirkungen' der Religion auf die Gesellschaft interessierte) Elemente miteinander zu kombinieren. Mir ist wohl bewusst, dass die Vertreter des 'Substanzialismus' und des 'Funktionalismus' mehrheitlich die jeweils andere Betrachtungsweise ablehnten und z.T. erbitterte Debatten darüber ausgefochten haben, welche Betrachtungsweise denn nun die richtige sei.
Diesbezüglich halte ich es mit der modernen Physik, die anfangs des 20. Jahrhunderts schmerzlich erkennen musste, dass die 'Wahrheit' in einem einfachen 'Entweder - Oder' nicht zu haben ist. Die Physiker hatten sich nämlich rund 250 Jahre lang darüber gestritten, ob das Licht aus Teilchen bestehe (Newton) oder als Welle zu beschreiben sein (Huygens). Kurz nachdem die Wellentheorie sich endgültig durchgesetzt hatte (Faraday, Maxwell, Hertz) und deren technische Anwendung zum Siegenszug ansetzte (Funktelegrafie, Radio) entdeckte nämlich Albert Einstein bestimmte Erscheinungen, die sich mit der Wellentheorie nicht mehr erklären liessen, dagegen mit der Teilchenvorstellung sehr wohl. Aus der erneuten Auseinandersetzung entstand die Quantenmechanik (Einstein, Bohr, Heisenberg) und damit ein ganz neues Verständnis für die Grenzen menschlicher Erkenntnis - gerade dort, wo sie durch ihre Anwendungen eben noch zum Staunen und zur Fortschritts-Gläubigkeit verleitete ...
Ich lasse hier die wichtigsten verwendeten Definitionen im originalen Wortlaut folgen:
"Eine Religion ist
(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt
(2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und
Motivationen in den Menschen zu schaffen,
(3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung
formuliert und
(4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität
umgibt, daß
(5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit
zu entsprechen scheinen."
(Clifford Geertz, Dichte Beschreibung.
Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 1983).
"Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken,
die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge,
Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft,
die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.
Das zweite Element, das in unserer Religion auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste;
denn wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche
nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im wesentlichen kollektive
Angelegenheit ist."
(Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens,
(franz. 1912), Frankfurt: Suhrkamp 1994, S. 75)
(Klassische funktionale Definition von Religion)
"Überall steht der Mensch vor der Aufgabe, seine Welt, die offen und nicht festgelegt ist,
zu ordnen und zu kontrollieren; überall ist er mit Mächten konfrontiert, die sich dieser Kontrolle
entziehen (seien es nun Mächte der Natur, einer entgegengesetzten politischen Ordnung, des
unkontrollierbaren kontingenten (zufälligen) geschichtlichen Ablaufs oder auch
innerpsychischer Erfahrung); an dieser Stelle sind die religiösen Probleme angesiedelt.
Es geht darum, dem Bereich des Unkontrollierbaren eine Form zu geben, mit der sich umgehen
lässt. Dabei wird einerseits Unkontrollierbares in die Kontrolle überführt, andererseits aber
auch wieder belassen; Religion leistet also eine gleichzeitige Darstellung der unkontrollierbaren
lebensbestimmenden Mächte und der kontrollierbaren Lebensordnung, die darin gründet.
Dadurch ergibt sich eine grundlegende und umfassende Orientierung des Menschen -
eine Orientierung, derer er als 'Mängelwesen' bedarf. Religion gehört also zum Wesen des
Menschen."
(Grundzüge der Religionswissenschaft, 1988, S. 32-33)
© 2003 Markus Jud, Luzern Alle Rechte vorbehalten. Reproduktion grösserer Teile in gedruckter oder elektronischer Form nur mit schriftlicher Einwilligung erlaubt. Zitate nur mit Quellenangabe (Link). |
Letztes Update: 18.04.2003 |
![]() |
![]() |
![]() |