Versuch einer

Definition von Religion

Eine Religion ist

  1. ein Symbolsystem von sakralen (heiligen) Überzeugungen und Praktiken (Riten, Kult),
  2. die vom Alltäglichen (Profanen) abgesondert sind,
  3. von ausgewählten Amtsträgern (Priestern, Schamanen) an heiligen Stätten (Tempeln, Kirchen, Moscheen, Wallfahrtsorten usw.) vermittelt bzw. durchgeführt werden und
  4. die Menschen zu einer Gemeinschaft (christlich: 'Kirche', islamisch: 'Umma', usw.) zusammenführen und zusammenhalten.
  5. Dieses Symbolsystem zielt darauf ab, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen (Staunen, Faszination und Ehr-Furcht) und Motivationen in den Menschen zu schaffen,
  6. indem es unhinterfragbare Vorstellungen einer allgemeinen, verpflichtenden Seinsordnung sowie Verbote (Tabus) formuliert und Übertretungen mit Sanktionen (Strafen) bedroht,
  7. damit das Chaos bändigt , und die Moral (das richtige Verhalten) festigt und
  8. das Unkontrollierbare (Angst auslösende!) in eine Art von Kontrolle überführt, aber letzlich doch auch wieder unkontrollierbar beläßt.
  9. Sie umgibt diese Vorstellungen mit einer solchen Aura (Ausstrahlung) von Faktizität (Tatsächlichkeit), daß
  10. die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen, so daß
  11. sie von den Menschen als ebenso wahr angenommen werden (Glauben), wie im Alltag nachprüfbare Erfahrungen.

In dieser Definition [Begriffserklärung] habe ich versucht, die wesentlichen Aspekte von Religion zusammen zu fassen, wie sie von verschiedenen Religionswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts (Emile Durkheim, Clifford Geertz, Fritz Stolz, Rudolf Otto) formuliert worden sind. Es erscheint mir dabei gerade wesentlich, sowohl substanzielle (d.h. das 'Wesen' der Religion beschreibende) wie auch funktionale (d.h. an den 'Auswirkungen' der Religion auf die Gesellschaft interessierte) Elemente miteinander zu kombinieren. Mir ist wohl bewusst, dass die Vertreter des 'Substanzialismus' und des 'Funktionalismus' mehrheitlich die jeweils andere Betrachtungsweise ablehnten und z.T. erbitterte Debatten darüber ausgefochten haben, welche Betrachtungsweise denn nun die richtige sei.

Diesbezüglich halte ich es mit der modernen Physik, die anfangs des 20. Jahrhunderts schmerzlich erkennen musste, dass die 'Wahrheit' in einem einfachen 'Entweder - Oder' nicht zu haben ist. Die Physiker hatten sich nämlich rund 250 Jahre lang darüber gestritten, ob das Licht aus Teilchen bestehe (Newton) oder als Welle zu beschreiben sein (Huygens). Kurz nachdem die Wellentheorie sich endgültig durchgesetzt hatte (Faraday, Maxwell, Hertz) und deren technische Anwendung zum Siegenszug ansetzte (Funktelegrafie, Radio) entdeckte nämlich Albert Einstein bestimmte Erscheinungen, die sich mit der Wellentheorie nicht mehr erklären liessen, dagegen mit der Teilchenvorstellung sehr wohl. Aus der erneuten Auseinandersetzung entstand die Quantenmechanik (Einstein, Bohr, Heisenberg) und damit ein ganz neues Verständnis für die Grenzen menschlicher Erkenntnis - gerade dort, wo sie durch ihre Anwendungen eben noch zum Staunen und zur Fortschritts-Gläubigkeit verleitete ...

Ich lasse hier die wichtigsten verwendeten Definitionen im originalen Wortlaut folgen:

Clifford Geertz

"Eine Religion ist
  (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt
  (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen,
  (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und
  (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß
  (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen."
(Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 1983).

Emile Durkheim

"Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Religion auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist."
(Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, (franz. 1912), Frankfurt: Suhrkamp 1994, S. 75)
(Klassische funktionale Definition von Religion)

Fritz Stolz (Zürich, 1942)

"Überall steht der Mensch vor der Aufgabe, seine Welt, die offen und nicht festgelegt ist, zu ordnen und zu kontrollieren; überall ist er mit Mächten konfrontiert, die sich dieser Kontrolle entziehen (seien es nun Mächte der Natur, einer entgegengesetzten politischen Ordnung, des unkontrollierbaren kontingenten (zufälligen) geschichtlichen Ablaufs oder auch innerpsychischer Erfahrung); an dieser Stelle sind die religiösen Probleme angesiedelt. Es geht darum, dem Bereich des Unkontrollierbaren eine Form zu geben, mit der sich umgehen lässt. Dabei wird einerseits Unkontrollierbares in die Kontrolle überführt, andererseits aber auch wieder belassen; Religion leistet also eine gleichzeitige Darstellung der unkontrollierbaren lebensbestimmenden Mächte und der kontrollierbaren Lebensordnung, die darin gründet. Dadurch ergibt sich eine grundlegende und umfassende Orientierung des Menschen - eine Orientierung, derer er als 'Mängelwesen' bedarf. Religion gehört also zum Wesen des Menschen."
(Grundzüge der Religionswissenschaft, 1988, S. 32-33)


Weiterführende Literatur und Links zu Religion allgemein

  • Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München: C.H.Beck, 1997
  • Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, (franz. 1912), Frankfurt: Suhrkamp 1994
  • Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Brigitte Luchesi und Rolf Bindermann. Frankfurt: Suhrkamp, 1983
  • Hartmut Zinser (Hg.), Religionswissenschaft. Eine Einführung, 1988

Weiterführende Literatur und Links zu Judentum und Christentum


© 2003 Markus Jud, Luzern
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Letztes Update: 18.04.2003

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